
Kompetenzen fürs Leben – nicht nur für die Schule
Was Schweizer Kinder heute wirklich brauchen
Als Lehrperson in den friLingue-Camps begleite ich jeden Sommer Hunderte von Kindern und Jugendlichen – und ich stelle mir oft dieselbe Frage: Wie bereiten wir sie auf die Welt von morgen vor?
Denn Hand aufs Herz: Die Schweiz von heute ist längst nicht mehr die, in der wir aufgewachsen sind, und die Welt, in der unsere Jugendlichen einmal leben werden, wird sich noch stärker verändert haben. Automatisierung verändert den Arbeitsmarkt, ökologische Herausforderungen werden grösser, die Globalisierung schreitet weiter voran – unsere Schülerinnen und Schüler werden mehr brauchen als nur den Satz des Pythagoras, um in dieser Zukunft zu bestehen.
Ich sage nicht, dass wir unsere Kinder unter Druck setzen oder zu kleinen Super-Robotern machen sollen – ganz im Gegenteil! Ziel ist es, ihnen Werkzeuge mitzugeben, um sich in dieser sich wandelnden Welt sicher und selbstbewusst zu bewegen.
Welche Kompetenzen sind es also, die ich vor Ort als entscheidend beobachte?
Kritisches Denken: Ihr wichtigster Schutzschild
Wenn ich nur eine einzige Fähigkeit auswählen müsste, die ich bei den Jugendlichen fördern will, wäre es diese. Warum? Weil diese Kinder in einer Welt aufwachsen, in der ChatGPT Aufsätze schreiben kann, die überzeugend, aber manchmal völlig falsch sind, in der TikTok-Algorithmen sie zu immer extremeren Inhalten führen, und in der Werbung ihnen verspricht, dass ein Shampoo ihre Haare „300 % glänzender“ macht (Spoiler: Nein, tut es nicht).
Analysieren, hinterfragen und selbst denken zu können, ist längst kein Luxus mehr – es ist eine absolute Notwendigkeit. Und ich kann dir sagen: Nach mehreren Jahren Camp-Erfahrung ist ein:e Kolleg:in, der oder die Informationen kritisch hinterfragt, Gold wert!
Wie entwickelt man diese Fähigkeit konkret? Ich arbeite im Camp sehr gern mit der Methode des einfachen „Warum?“. Wenn mir ein Teilnehmender sagt: „Alle Influencer sagen, das Spiel ist mega!“, dann frage ich: „Wer genau sagt das? Woher weiss die Person das? Hat sie das Spiel wirklich getestet oder wird sie dafür bezahlt?“
Es ist beeindruckend, wie schnell Kinder und Jugendliche solche Zusammenhänge verstehen, wenn man sie ihnen in einfachen Worten erklärt.
Ein weiteres Lieblingsspiel von mir ist der „Fake-News-Detektiv“: Wir suchen uns gemeinsam eine virale Info aus (z. B. „Ein rosa Delfin im Genfersee gesichtet!“) und recherchieren: Sind die Bilder bearbeitet? Ist die Quelle vertrauenswürdig? In wenigen Minuten lernen meine Schülerinnen und Schüler, Fake News besser zu erkennen als viele Erwachsene.
Mehrsprachigkeit: Unser Schweizer Superkraft
In der Schweiz nur eine Sprache zu sprechen, ist wie ein Taschenmesser ohne Hauptklinge!
In unseren Camps sehe ich jeden Tag, was Sprachen bewirken können. Die Kinder, die sich am schnellsten integrieren, sind oft die, die mehrere Sprachen sprechen. Und selbst die Schüchternsten werden plötzlich zu kleinen Stars, wenn sie als Übersetzer:innen einspringen können.
Ich weiss, dass es nicht immer einfach ist, Kinder fürs Französischlernen zu begeistern – vor allem, wenn Netflix & Co. auf Deutsch locken. Aber: Es lohnt sich.
Aus meiner Sicht ist die perfekte Kombination: Zwei Landessprachen plus Englisch. Warum Englisch? Weil es zur Sprache von Technologie, Wissenschaft und (YouTube-)Tutorials geworden ist – also der Welt, in der sich unsere Kinder ohnehin schon bewegen.
Was wirklich funktioniert, ist Sprachimmersion. In unseren friLingue-Camps beobachte ich unglaubliche Fortschritte: Kinder, die sich in der Schule nie trauen zu sprechen, fangen nach wenigen Tagen an, auf Französisch zu plaudern. Jugendliche stellen fest, dass sie sich auf Englisch wirklich verständigen können. Sprache leben statt Konjugation pauken – das ist unschlagbar. Ich sehe es jeden Sommer!
Emotionale Intelligenz: Das Geheimnis gelingender Beziehungen
Oft vergessen, aber entscheidend: In der Arbeitswelt geht es nicht nur nur um Fachwissen. Teamfähigkeit, Empathie, Konfliktlösung und klare Kommunikation – das sind die Eigenschaften, die aus einem guten Mitarbeitenden einen starken Leader machen.
In unseren Camps sehe ich diese Entwicklung ganz konkret: Wenn ein Jugendlicher merkt, dass sein Mitbewohner nicht einfach „nervt“, sondern vielleicht Heimweh hat. Oder wenn es gelingt, die eigene Meinung in einer Diskussion zu vertreten, ohne Streit auszulösen – dann weiss ich: Hier wachsen wichtige Fähigkeiten fürs Leben.
Das ist eine grosse Stärke unserer friLingue-Camps. Es sind nicht nur Sprachprogramme, sondern auch eine Schule des Zusammenlebens. Teilnehmende lernen, miteinander auszukommen, Konflikte zu lösen und Freundschaften über kulturelle Grenzen hinweg zu schliessen. Ich sehe es jedes Jahr: neue Freundschaften trotz Sprachbarrieren, Diskussionen, die respektvoll bleiben, und Kinder, die ganz natürlich in Führungsrollen hineinwachsen.
Technologie: Verstehen, ohne sich zu verlieren
Unsere Jugendlichen müssen keine Hacker werden – aber sie sollten sich sicher und bewusst in der digitalen Welt bewegen können. Das bedeutet: Wissen, wie ein Computer funktioniert. Die Grundlagen des Programmierens verstehen (zum Beispiel, um mal eine eigene Website zu bauen oder gebrauchte Spielsachen online zu verkaufen). Und ganz wichtig: Kritisch mit Online-Informationen umgehen.
In unseren Camps bauen wir regelmässig Coding-Workshops ein – und es ist grossartig zu sehen, wie viel Selbstvertrauen die Jugendlichen gewinnen, wenn sie merken: „Ich kann mit meinem Kopf und meinen Händen etwas erschaffen!“
Ich finde auch: Sie sollten lernen, Tools wie ChatGPT zu nutzen, ohne sich blind darauf zu verlassen. Es ist ein tolles Hilfsmittel – aber sie müssen lernen, zu prüfen, was es ausspuckt, und dabei ihr eigenes Denken nicht verlernen.
Selbstständigkeit: Lernen, auf eigenen Beinen zu stehen
Das ist vielleicht die schönste Entwicklung, die ich jedes Jahr beobachten darf: Kinder, die Schritt für Schritt lernen, selbstständig zu sein. Oft geht das am besten, wenn sie etwas Abstand zum Zuhause haben.
Ich meine damit nicht unbedingt, dass sie plötzlich freiwillig ihr Zimmer aufräumen (wäre schön!) – sondern dass sie anfangen, eigene Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, kleine Probleme selbst zu lösen, ohne sofort Mama oder Papa anzurufen.
Diese Selbstständigkeit entsteht langsam – aber ich sehe sie jeden Tag im Camp wachsen:
Ein Kind, das lernt, mit seiner Wäsche umzugehen. Ein Teenager, der mit seinen neuen Freunden den Tagesplan organisiert. Oder jemand, der Hilfe braucht – und sich traut, darum zu bitten, aber erst versucht, es selbst zu lösen.
Freiheit mit Rückhalt – das ist der Rahmen, in dem Selbstständigkeit am besten wächst. Unsere Sommercamps sind genau solche Übungsfelder für Unabhängigkeit. Und die Kinder merken: Ich kann viel mehr, als ich dachte.
Weltbürger:innen – mit Wurzeln in der Schweiz
In unseren Camps begegnen sich junge Menschen aus der ganzen Schweiz – und manchmal auch darüber hinaus. Ich wünsche mir, dass sie offen für die Welt aufwachsen, wie es zu unserem Land passt – ohne ihre Schweizer Identität zu verlieren.
Das heisst: mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenarbeiten, Umweltfragen verstehen, sich vielleicht sogar einmal in ihrer Gemeinde engagieren.
Diese kulturelle Vielfalt sehe ich jeden Tag: Ein Romand lernt ein paar Worte Schwyzerdütsch, eine Tessinerin entdeckt Walliser Traditionen, Stadtjugendliche atmen Bergluft…Diese Einheit in der Vielfalt ist für mich das Schönste an der Schweiz – und etwas, das ich diesen jungen Menschen gern mitgeben möchte.
Wie bringt man all das rüber, ohne zu langweilen?
Nach all den Jahren als Lehrer habe ich gelernt: Der Schlüssel ist, Lernen konkret und spielerisch zu machen.
Warum nicht statt einer weiteren Analysearbeit eine Mini-Firma gründen lassen? Oder ein Kulturevent planen? Oder in Rollenspielen sagen: „Du bist CEO eines Start-ups – wie reagierst du in der Krise?“ (Antwort „Ich rufe Papa an“ ist verboten)
In unseren friLingue-Camps setzen wir genau auf diesen Ansatz: Lernen durch Tun, mit Freude.
Denn wenn die Jugendlichen Spass haben, lernen sie am besten.
Ich sehe es jeden Sommer: Sprachen fliessen am Lagerfeuer. Freundschaften entstehen beim Wandern. Neue Perspektiven entwickeln sich im Spiel.
Unsere Aktivitäten – Sport, kreative Workshops, Abenteuer in der Natur – sind kein „Bonus“, um die Zeit zu füllen. Sie sind das perfekte Umfeld, um genau diese Schlüsselkompetenzen zu entwickeln.
Vorbereitet – aber nicht überfordert
Die Zukunft gehört den neugierigen, anpassungsfähigen und selbstsicheren Jugendlichen.
Und wenn sie dann noch drei Sprachen sprechen und ein wenig programmieren können, liegt die Zukunft der Schweiz in sehr guten Händen.
Wichtig ist, dass wir sie begleiten, ohne sie zu überfordern. Dass wir ihren Rhythmus und ihre Persönlichkeit respektieren. Nach all den Jahren mit Hunderten von Jugendlichen in unseren Camps kann ich dir versichern:
Sie bringen alles mit, was sie brauchen – unser Job ist es, ihnen zu helfen, es zu entdecken.
Und glaub mir: Wenn ein schüchternes Kind Selbstvertrauen gewinnt oder ein zurückhaltender Teenager plötzlich die Gruppe anführt – das ist unbezahlbar.